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Die alte Biene

Mitternacht ist schon vorbei, Stille liegt über dem Haus. Ich sitze im Wohnzimmer auf einer Matratze neben der alten Biene. Krankenwache. Ich habe die erste Schicht übernommen, Lynn will mich später ablösen.
Es gibt nichts, was wir für Biene noch tun könnten, außer bei ihr zu sein. Ich habe also Zeit nachzudenken über diese Hündin und ihr Leben, das heute nacht zu Ende gehen wird.

Vor 13 Jahren hatte eine junge Familie ein Gordon-Setter-Baby von einem berüchtigten Zwinger gekauft, wo man noch mindestens 99 weitere Hunderassen verscherbelte. „Produziert“ wurden die meisten der dort angebotenen Hundekinder da, wo es am billigsten war; dieses Baby beispielsweise kam aus Tschechien. Die Familie hatte Glück und einen gesunden, psychisch stabilen Welpen erworben, was bei Tieren aus dergleichen dunklen Kanälen keineswegs üblich ist.

Biene wuchs heran zu einer großen, selbstbewußten und wunderschönen Hündin. Sie war ein vorbildliches Familienmitglied, liebte die Kinder und diese liebten sie. Sie hatten viel Spaß miteinander. Sie tollten im Schnee, beim Schlittenfahren zog sie ihnen die Mützen vom Kopf. Oft und gern gingen sie zusammen schwimmen; wenn die Kinder mit dem Schlauchboot auf den See rausfahren wollten, zog Biene sie am Seil zurück ans Ufer - fast schien es, als hätte sie Angst, es könnte ihnen was passieren. Einmal hat Biene auch Babies zur Welt gebracht, zehn, eins davon ist gestorben, die anderen zog sie auf, war eine tadellose Mutter.
Als die Familie später auseinanderbrach, war Biene elf Jahre alt. Die Frau mußte arbeiten gehen, zog mit den Kindern in eine Stadtwohnung im dritten Stock, für den Hund war kein Lebensraum mehr. Wohin damit? Einen Lebensabend im Tierheim, aus dessen Zwinger sie wohl nie mehr herausgekommen wäre, wollte man ihr ersparen.
Aber da gab’s doch auch noch diese Tierfreunde in Guntersdorf, die haben ein Tierheim - und doch auch wieder nicht. Also wurden wir gefragt, ob wir die Biene auf ihre alten Tage bei uns aufnehmen würden, andernfalls müsse sie wohl eingeschläfert werden - so der verzweifelte Versuch, uns zu erpressen. Erpressung war aber gar nicht nötig, natürlich würden wir sie nehmen. Sie wurde also zu uns gebracht, mit all ihren Habseligkeiten: restliche Futterdosen, Schüssel, Decke, Leine, Halsband, übriggebliebene Wurmtabletten, das bißchen halt, was sich in einem Hundeleben so ansammelt. Es versteht sich von selbst, daß es der Frau nicht leicht fiel, die Hündin, die elf Jahre ihr Leben geteilt hatte, bei uns zurückzulassen. Weinend fuhr sie weg.
Bienes Welt aber lag völlig in Scherben. Sie stand am Tor, trat hektisch von einem Fuß auf den andern, weinte, schrie, rang keuchend nach Luft. Zeitweise fürchteten wir, sie würde an diesem Schmerz zugrunde gehen. Tage dauerte es, bis sie überhaupt zuhörte, wenn man mit ihr sprach. Nur ganz allmählich begann sie, am Leben in Guntersdorf teilzunehmen. Und ganz allmählich ließ sie uns in ihr Herz.
Trotz ihrer schon recht wackligen Beine liebte Biene am allermeisten die Spaziergänge; und wenn diese perfekt sein sollten, mußten sie an einem Gewässer vorbeiführen. Beim Anblick von Flüssen, Teichen, Tümpeln war sie nicht zu halten, da mußte sie hinein, tauchte so weit ein, daß ihre langen Ohren mit den prächtigen Locken seitlich vom Kopf auf dem Wasser trieben, die Nase hoch, der Blick entrückt. Oft machte sie sich auch allein auf zum Teich am Ende unseres Grundstücks, kam dann zurück, triefend naß, stapfte ins Wohnzimmer und rauf auf die Couch. Meist hieß es dann: „Ach, Mensch, Biene!“ Die Antwort war ein trotzig-knappes: „Na und?“

Biene on tour

Biene tat eigentlich immer nur, was sie wollte. Ausgestattet mit einem gesunden Selbstbewußtsein, eigensinnig bis stur, war sie ein typischer Setter-Maulesel-Mix. Vorschriften von uns ließ sie sich kaum machen; von den Hunden aber schon überhaupt nicht.
Biene gewöhnte sich recht gut bei uns ein, wurde zum Mitglied des „Stammtisches“, wie das Rudel der eigenen und Unvermittelbaren in Guntersdorf genannt wird; sie war uns eine liebe Gefährtin und das wußte sie auch.
Trotzdem konnten wir ihr die verlorene Familie nicht ganz ersetzen. Zwar hat sie nie versucht, mit Fremden anzubandeln, die zu uns kamen, sich einen Hund auszusuchen; wenn aber unterwegs am Horizont Spaziergänger auftauchten, beobachtete sie diese aufmerksam, ließ sie nicht aus den Augen, bis sie sicher war, daß es doch wieder nicht die Richtigen waren - jene, auf die sie wartete, daß sie zurück kämen, um sie endlich wieder nach Hause zu holen. Ein letztes Quentchen Hoffnung hat sie wohl nie ganz aufgegeben.
Außer den wackligen Beinen und einem chronischen „Frauenleiden“ war auch Bienes Herz nicht mehr das jüngste. Von dem Tag an, als sie zu uns kam, mußte sie gegen ihre Zipperlein täglich alle möglichen Tabletten und Tropfen schlucken.

Überhaupt, die medizinische Versorgung: Eine halbe Apotheke haben wir zu Hause. Medikamente verteilen ist längst zum allabendlichen Ritual geworden: Tabletten, Säfte, Salben, Augen- und Ohrentropfen, Spritzen. Bei den Tierärzten sind wir - gern gesehene - Stammgäste. Neuankömmlinge müssen erst medizinisch gecheckt, oft auch operiert werden, ehe man über ihre Vermittlung nachdenken kann - eine Versorgung, deren Kosten oft die Schutzgebühr oder Spende bei weitem übersteigen, die wir später anläßlich der Abgabe dieser Tiere erhalten.
Oft werden wir gefragt: „Wer zahlt denn das eigentlich? Ihr könnt doch unmöglich selber...?“ Nein, das könnten wir wahrlich nicht. Lynn und ich wären längst unter der Brücke gelandet ohne die Hilfe von Menschen, die die Tierfreunde Niederbayern mit ihren Spenden über Wasser halten. Auch die Patenschaften tragen dazu bei, daß wir ruhig schlafen können, weil damit regelmäßig für das Nötigste sicher gesorgt ist. Und wir sind dankbar, daß es im Rahmen des Vereins der Tierfreunde und seiner Mitglieder nie zur Diskussion gestellt wird, daß jeder unserer Schützlinge die beste Behandlung und Versorgung erhält, daß nicht etwa billiges, sondern nur gutes Futter gekauft wird, daß es getrockneten Pansen täglich und für jeden gibt und ab und an einen Ochsenziemer - zumindest für die, die ihn noch beißen können.
Auf dieser soliden Basis ist es nicht nur möglich, sondern es macht auch Freude, Hunden wie Biene, Fielmann, Milo, Kali, Angelina, Kathi, Mona und Resi ein Zuhause zu geben, wenn niemand sonst sie mehr haben will.

Um halb zwei Uhr morgens in dieser Nacht: Biene hat noch ein paarmal den Kopf gehoben und nach mir geschaut. Ich habe sie bis zum Schluß gehalten und mit ihr geredet, damit sie weiß, daß sie in dieser Stunde nicht alleine ist.

Fast eineinhalb Jahre war Biene bei uns. Morgen früh werde ich sie zum Tierfriedhof bringen und angemessen beerdigen lassen. Auch das zahlt der Verein, und auch darüber hat es noch nie Diskussionen gegeben. (gh)

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